Aus Stockholm und London brachte ich eine Geschichte für Reportagen nach Hause.
Den Beitrag mit dem Titel “Wallanders Vermächtnis” über die doch sehr erstaunliche No-Hierarchy-Kultur der schwedischen Handelsbank durfte bislang erst ein erlesenes Publikum lesen, nämlich die Teilnehmer des Swiss Economic Forum.
Und das wird vorerst so bleiben. Weil, wenn alle die Longform-Reportage hier umsonst lesen könnten, warum sollte dann je noch jemand dafür bezahlen?
Hier zumindest das Cover der SEF-Spezialausgabe vom 4. Juni.
Für Reader’s Digest schreibe ich immer wieder kürzere Portraits über Menschen, die in unserer Gesellschaft etwas “Gutes” tun, ohne Selbstzweck und ohne das Geldverdienen im Hinterkopf zu haben. Die Rubrik im Heft heisst etwas pathethisch “Helden”. Ein Kaminfeger, der Igel durch den Winter bringt, eine ältere Dame, die depressiven Menschen zuhört oder eine Therapeutin, die verhaltensgestörte Kinder mit in die Reitstunde nimmt. Eine der bislang schönsten -und ausserdem sehr aktuellen – Geschichte finde ich aber das Portrait über Simone Maurer, die Decken für Flüchtlingskinder näht:
Crowdworker erledigen für wenig Geld und ohne jeglichen rechtlichen und sozialen Schutz kleine Aufträge im Internet. Die jahrhundertealte Heimarbeit, inklusive ihrer prekären Arbeitsbedingungen, erlebt derzeit eine Renaissance. Entsteht hier ein neues, digitales Prekariat?
Eine Geschichte, die im Syndicom Magazin und kürzlich auch im Strassenmagazin Surprise erschienen ist.
Ein geschiedener Vater wollte seinen Kindern das Gamen abgewöhnen. Es kam zum handgreiflichen Streit, die Kesb entzog ihm das Besuchsrecht. Der tragische Fall aus Uster zeigt vor allem eines deutlich: wie Elternkonflikte über die Kinder ausgetragen werden.
Die ganze Geschichte von der Hintergrundseite erschien im Zürcher Oberländer.
Sondern hörte mich um, warum ein 88-Jähriger Deutscher aus einer geschlossenen Anstalt flüchtete. Die Geschichte verfolgt eine interessante Frage, über die sich eine Debatte lohnt: Wie viel Selbstbestimmung soll man Menschen im Alter lassen, die keine Kinder haben?
Das Schicksal von Klaus Seidel schrieb Nina Poelchau im Stern/Nr. 31 vom 23.7. auf. Jetzt auch auf Stern online.
Übrigens machte die Geschichte in der Schweiz ein paar Tage später in der Watson-Neuauflage die Runde. Aufhänger natürlich nicht die oben erwähnte Frage, eher lenkte sie die Debatte in die Richtung “Nachdem die KESB bereits Familien und ihre Babys fertig machte, nimmt sie sich nun die Alten vor.” Auch darüber kann man diskutieren, doch das finde ich nicht ganz so interessant.
Ein Beitrag zu einer vernachlässigten journalistischen Frage. Erschienen im deutschen “Medium Magazin” (6/2015) und zuvor im “Schweizer Journalist” (04-05/2015).
Alle sprechen davon, wie wichtig der Einstieg in einen Text ist. Unbeantwortet bleibt die Frage: Wie um Himmels willen kommt man eigentlich wieder elegant raus aus dem Stück?Andres Eberhard
So. Der Anfang wäre geschafft. Sie sind noch dabei. Damit gehören Sie zu den rund 40 Prozent der Leser, die es über Titel und Vorspann hinaus schaffen. Wenn Sie nun diesen Absatz überstehen, gehen Sie statistisch gesehen ziemlich weit, oft bis zum bitteren Ende. Sagt die Leserforschung. Am Schluss haben Sie natürlich das gute Recht, nicht enttäuscht zu werden. Vor allem nicht von einem Text wie diesem. Sie werden erwarten, dass ein Artikel mit dieser Überschrift souverän zu Ende geht. Denn Sie haben dafür mindestens Ihre Kaffeepause geopfert. Nur: Wie geht das mit dem Schluss machen noch einmal ganz konkret?
„Fangen Sie mit einem Erdbeben an und steigern Sie langsam.“ Stern-Gründer Henri Nannen setzte mit diesem Tipp ganz schön Druck auf. So muss eine Geschichte viele Höhepunkte haben, damit sie es sich leisten kann, das Beste bis zum Schluss zurückzuhalten. Auch Kunstschreiber der Gegenwart halten Ratschläge bereit, die den Durchschnitts-Autoren eher beunruhigen als ihm helfen.
„Ein guter Schluss schwingt wie eine Stimmgabel.“ Das sagt der mehrfach ausgezeichnete freie Reporter Michael Obert. Eine Zauberformel für das Schreiben gebe es nicht. Immerhin, eine Empfehlung hält er bereit: Nachdem journalistisch alles geklärt sei, könne der Text in den letzten Sätzen noch einmal szenisch geöffnet werden. „Eine Art Open End.“
Es gibt aber auch Kollegen aus der Branche, die das etwas lockerer sehen. „Fangen Sie einfach irgendwie an, und hören Sie irgendwie auf.“ Das rät Christoph Zürcher, Leiter des Ressorts Gesellschaft bei der NZZ am Sonntag. Was er gar nicht mag, seien zu elaborierte, aufgesetzte Enden. Besser seien authentische Einstiege. „Da vertraue ich dem Journalisten sofort.“ Ausserdem: Wenn das Grundkonzept der Geschichte stimme, könne am Ende nicht viel schief gehen. „Ein guter Schluss kann einen schlechten Text auch nicht mehr rausreissen.“
Zürcher hat gut reden, hat er doch die Zeit, seine Geschichten von langer Hand zu planen. Bei seinen Gonzo-mässigen Reportagen stürzt er sich meist schon bei der Recherche mitten ins Geschehen. Beispiel Road-Trip durch Kirgistan vom letzten Sommer. Die Geschichte lebt von der Wildheit des Landes, den kuriosen Erlebnissen. Zürcher endet so: „Souvenirs: Eigentlich wollte ich ein Schaffell kaufen. Aber es gab nur Wolfspelze. Das kam mir für Kirgistan irgendwie symptomatisch vor.“
Auch wenn Zürcher sagt, er habe sich für das Ende dieser 30000 Zeichen-Geschichte nicht viel überlegt: Es ist ein Schluss wie aus dem Lehrbuch. Eine abschliessende Szene als Quintessenz der Geschichte, die erst noch direkt mit dem Titel harmoniert, der lautet: „Durch das wilde Kirgistan“.
„Stimmt, das ist ein logisches Ende“, sagt Zürcher. Je länger er darüber nachdenkt, desto mehr wird ihm bewusst, dass ein guter Schluss wohl schon wichtig sei, weil er das letzte ist, was dem Leser bleibt. „Ich mag Enden, die noch einmal etwas aufmachen, etwas im Vagen lassen.“
Nichts dem Zufall überlässt beim Schluss die Frau, die weiss, wie man einen Punkt hinter noch so lange Reportagen setzt: Margrit Sprecher. „Für Anfang und Schluss brauche ich die Hälfte der Zeit“, sagt sie. So behält sie sich das stärkste Bild bis zuletzt auf. Ein guter Schluss müsse überraschend und erlebnisstark sein, er müsse die ganze Geschichte in neuen Worten zusammenfassen und bestenfalls direkt mit dem Anfang im Zusammenhang stehen.
Das alles sagt sie in einer Selbstverständlichkeit, wie man es im heutigen, von kurzlebiger Lektüre geprägten Internetzeitalter nur ihr zugesteht. Denn Sprecher geht davon aus, dass die Leser ihre Texte bis ganz zum Schluss lesen. „Das wäre sonst deprimierend.“
In ihren Reportagen sei der Schluss sogar „das Allerwichtigste“, betont sie. „Er unterstreicht die Beweisführung.“ Die letzte Szene sollte dem Leser in Erinnerung bleiben, ihn beschäftigen.
Diese zu finden, könne manchmal durchaus einfach sein. Wie zum Beispiel in einem ihrer kürzlich in der ZEIT erschienenen Texte, als Sprecher an einer Stadtführung zum Thema Rohstoffhandel in Zug teil nahm. Da musste sie das szenische Detail nicht suchen, die Stadtführerin lieferte es als Teil des Rundgangs gleich mit. Im Text heisst es: „Und sie kennt auch den einzigen seriösen Rohstoffhändler in der Stadt.“ Worauf Sprecher endet: „Erwartungsvoll stoppt die Gruppe vor einem Süsswarengeschäft. Im Schaufenster steht ein Schild: „Konditorei Treichler, Erfinderin der Zuger Kirschtorte.“
Gut und recht, mag sich der eine oder andere Kollege aus dem Nachrichtengeschäft sagen, der keine Zeit hat, über solche Kunstformen nachzudenken. Zumindest die Situation kennt aus dem hektischen Tageszeitungs-Geschäft Constantin Seibt vom Tages-Anzeiger. In seinem Buch „Deadline“ schildert er sie:
„Es ist spät, verdammt spät, fünf Minuten vor oder genauer nach Redaktionsschluss. (…). Aber noch trennt Sie ein knapp drei Finger breites Loch vom Ende. Und Sie haben keine Idee mehr für eine Pointe. Sie haben überhaupt keine Idee mehr für irgendwas.“
Seibt empfiehlt, in diesem Moment, den Text hochzuscrollen zum Einstieg, um aus diesem einen Schluss zu formulieren. Er nennt diese Taktik den „Schwanzbeisser.“ „Aus irgend einem Grund befriedigt es Menschen, wenn sich etwas in den Schwanz beisst: die Schlange, das Rad der Zeit, der Kreis des Lebens oder sogar eine Katze auf Youtube.“
„Zurück zum Anfang“ ist natürlich nicht Seibts Erfindung. Genauso wie die „Quintessenz“ empfehlen auch Lehrbücher diese bewährte Ausstiegs-Form (siehe Box).
Diese Art von Schluss machen ist mittlerweile unter Journalisten so beliebt, dass sie manche Vielleser bereits langweilt. Zum Beispiel Philipp Maußhardt, Leiter der Reportageschule Reutlingen. Er mag Texte lieber, die in ihren letzten Zeilen eine „überraschende Wendung“ nehmen oder die Moral der Geschichte noch einmal elegant auf den Punkt bringen.
Er selber notiert sich die letzte Szene in vielen Fällen bereits während der Recherche in den Notizblock. „Es ist einfacher, auf einen Schluss hinzuschreiben.“ Sonst bestehe die Tendenz, alle schönen Szenen bereits früher in der Geschichte verbraten zu haben.
Maußhardt ist bekannt für seine lockeren, witzigen Reportagen, in denen das Ende oft die Funktion eines Gags übernimmt. Als entsprechend wichtig erachtet er es. „Der Einstieg ist wichtig, damit der Leser weiter liest. Das Ende aber hallt nach und bleibt.“ Der Schluss werde im Vergleich zum Anfang unterbewertet, sagt er.
Warum aber wird der Schluss von Texten von Journalisten so stiefmütterlich behandelt? Dafür gibt es zwei Erklärungen.
Der eine ist historischer Art. Bevor es PC’s und Layoutprogramme gab, mussten Setzer die Seiten von Hand zusammen basteln. Das war ein sehr aufwendiger Prozess. Lieferte der Journalist ein zu langes Stück ab, musste entweder noch einmal die ganze Artikelfahne gedruckt werden. Oder aber der Setzer schnitt den Text einfach von hinten ab. Viele heute noch tätigen Journalisten haben so ihr Handwerk gelernt: In den letzten paar Sätzen ja nichts Wichtiges sagen. Heute wird auf Nachrichtenagenturen nach demselben Prinzip gearbeitet – um gestressten Redaktoren das Kürzen möglichst einfach zu machen.
Den zweiten Grund kennt Leserforscher Carlo Imboden, der Erfinder des Reader Scan. Für den Leser sei der Schluss der Geschichte nicht entscheidend, sondern der Anfang. Beim Ende gelte: „Hauptsache, es wird gelesen.“ Ob ein Schluss gut oder schlecht sei, fragt Imboden in seinen Studien gar nicht ab. „Es bringt mir nichts.“ Ergebnisse aus Fernsehstudien würden zeigen: „Manche Zuschauer sind richtig gehend masochistisch. Sie sagen, sie würden eine Sendung scheisse finden. Dann schalten Sie aber doch immer wieder ein.“
Dieses ernüchternde Fazit bricht Imboden nur für eine spezifische Form von journalistischen Artikeln auf: Bei Kommentaren, Leitartikeln und Glossen sei das Ende sehr wohl entscheidend. Zumindest kann er nur für solche Formen nachweisen, dass der Leser die Rubrik in Zukunft meidet, wenn ihn ein Text frustriert zurücklässt. „Da muss zum Schluss zwingend eine Pointe oder klare Aussage kommen.“
Demzufolge spielt es keine Rolle, wie dieser Artikel zu Ende geht. Interessanter ist ohnehin die Frage, ob Sie bis hierhin wirklich den ganzen Text gelesen haben. Oder sind Sie etwa nach dem Einstieg sofort hierhin gesprungen? In diesem Fall gehören Sie zu einem bei Magazinen verbreiteten Lesertyp, der nach den ersten Zeilen einer Geschichte sofort die Quintessenz sucht. Sollte das auf Sie zutreffen, beweisen Sie nichts anderes, als dass der Schluss eben doch gut gelesen wird. Und damit wichtig ist.
Das sagt das Lehrbuch Das geht:
– Ende der Handlung: Wenn es geht, verdichten oder überhöhen.
– Die Quintessenz: Eine abschliessende Szene oder Handlung, in der sich die Kernaussage des Textes kristallisiert.
– Zurück zum Anfang: Funktioniert praktisch immer. Jedoch nur, wenn sich beides auf die Kernaussage bezieht.
– Pointe oder Paukenschlag: Wenn Sie noch was im Ärmel haben, schütteln Sie es raus.
– Ausblick, Service, Appell: Es muss nicht immer hoch kreativ sein. Für sachliche Berichte geeignet.
Das geht nicht:
– Nebenschauplatz: Der Text darf den Fokus am Ende nicht verlieren.
– Das neue Fass: Im letzten Absatz keinen neuen Käse anschneiden.
– Nährwert Null: Kann man den Schluss von hinten kürzen? Wenn ja, tun Sie es.
Quelle: Marie Lampert/Rolf Wespe: Storytelling für Journalisten.
Gute Enden
– In einer Geschichte über den untergetauchten Romanautor Peter Hoeg bringt die schwedische Journalistin Natalia Kazmierska zum Schluss einen Paukenschlag:
„Die Bedingung ist, dass ich niemandem erzähle, dass ich ihn hier und jetzt getroffen habe. Das ist die wichtigste Forderung des weltberühmten Schriftstellers. Er insisitert sehr auf diesem Punkt. Ich muss tun, als habe dieses Treffen in Norre Snede nie stattgefunden. Ich stimme nicht zu.“
– Erwin Koch endet seine Geschichte über den Altphilologen Kurt Steinmann mit einem Ausblick – aber wie:
„Dann tritt er an seinen Tisch in seinem Zimmer und beginnt zu übersetzen, Homers anderes grosses Werk, die „Ilias“, 15 Verse jeden Tag, zuerst im Kopf, dann schreibt er sie nieder, schmeckt sie ab, tippt sie endlich in den Computer, sechs Stunden Arbeit für 15 von 15693 Versen, 1047 Tage für die „Ilias“, Hieb um Hieb, Schlacht um Schlacht, Gott für Gott, Abgabetermin – 2018.“
– Die mehrfach preisgekrönte Reportage von Takis Würger über den 50-jährigen Profiboxer Andreas Sidon hat ihren Höhepunkt kurz vor Schluss, als Sidon den im Countdown-Stil erzählten Boxkampf überraschend gewinnt. Der letzte Absatz ist dann wieder ganz leise, ein schlichtes Ende der Handlung: „Der Ring war abgebaut, die Stühle waren gestapelt, und Sidon stand noch lange in der Halle.“
Bei Krautreporter und Weeklys gibt es eine Reportage von mir zu lesen über eine Ehe in der DDR, die langsam in Richtung Abgrund steuert. Die tragische Geschichte deutet den Wahnsinn an, der hinter scheinbar alltäglichen Beziehungsstreitigkeiten steckt.
Das Lesen für die Longform verlangt etwas Zeit (vielleicht 15 Minuten) und wenig Geld (rund 1 Euro).
Schacht, Schnaps und eine Axt DDR 1989: Gerhard verdient gutes Geld in 300 Meter Tiefe, Renate arbeitet im Büro des Bergwerks, sie sind verheiratet, drei Kinder. Doch dann wird der Schacht geschlossen. Beide verlieren ihre Jobs. Die Folgen: Geldsorgen, Alkohol und ein blutiges Ende.
Meine Arbeit in Deutschland wird ab sofort schlechter bezahlt. Das interessiert aber keinen. Jedoch schon, was der neue Kurs
1 Franken = 1 Euro für den Tourismus in der Schweiz bedeutet.
Der hohe Frankenkurs erweist sich für die Schweiz womöglich als Eigentor. Der Tourismus steht unter Schock, und die Landsleute verhalten sich alles andere als patriotisch. Eine Reise ins Krisengebiet.
Ecopop, die radikale Öko-Initiative gegen Zuwanderung, ist abgewendet. Und mir brummt der Schädel. Diagnose: Zu viel Propaganda und Gegenpropaganda. Als ich noch zurechnungsfähig war, reiste ich für Stern Online nach Effingen, ins Machtzentrum des kleinen Vereins.
Wer’s gerne ausführlicher mag, liest bei der Wiener Zeitung oder der Augsburger Allgemeinen nach.Wer nicht das Glück hat, Abonnent einer dieser beiden Zeitungen zu sein, soll jetzt Kaffee machen und die Longform gleich hier am Bildschirm lesen.
Machtergreifung aus dem Bauerndorf
Radikale Umweltschützer wollen mit einer Volksabstimmung die Zuwanderung in die Schweiz bremsen. Alle großen Parteien stemmen sich dagegen, Kritiker sprechen von Faschismus. Doch die Idee genießt Sympathien. Was ist da bloß los? Ein Besuch in der Machtzentrale des Vereins Ecopop; einer Bauerngemeinde von 600 Einwohnern.
Andreas Thommen, Vorstandsmitglied von Ecopop, vor seinem Haus in Effingen. Bild: Andres Eberhard
von Andres Eberhard
Dichtestress könnte das Wort des Jahres werden in der Schweiz. Oder das Unwort, je nachdem. Dichtestress steht für den Sorgeneintopf, der in den Schweizer Köpfen brodelt: die verstopften Züge, die Platznot in den Städten, der drohende Kollaps der Autobahnen. Am kommenden Sonntag entscheiden die Schweizer in einer Volksabstimmung über eine Vorlage, die das Alpenparadies vor den Folgen des rasanten Wachstums schützen soll.
Autobahn Zürich-Basel, Ausfahrt Effingen im Aargau. Straße und Bahn sorgen für eine der höchsten Verkehrsdichten in der Schweiz. Doch im Dorfkern ist es ruhig, ein Hügel verschluckt den Lärm. 600 Einwohner zählt das Dorf, Kühe grasen auf saftigen Wiesen, das Zentrum bilden ein paar aus der Zeit gefallene Bauernhäuser. Vor dem ehemaligen Schulhaus hängt an zwei Straßenlaternen ein Werbeblatt, farbig in A4 wie frisch aus dem Tintenstahldrucker. „9 statt 12 Millionen-Schweiz”, steht darauf.
Drinnen tütet ein Helfer Briefe mit Propagandamaterial für die kommende Volksabstimmung ein. Das Haus ist das Machtzentrum von Ecopop, einem Verein von knapp 2000 Mitgliedern, der zurzeit das politische System der Schweiz ins Wanken bringt.
Die Initianten wollen mit der Initiative „Stopp der Überbevölkerung” die Zuwanderung auf jährlich 0,2 Prozent der ständigen Wohnbevölkerung beschränken. Angeblich wollen sie damit die Natur schützen, vor der Zubetonierung, vor dem Dichtestress, vor dem Kollaps.
Andreas Thommen steht vor dem Ecopop-Haus und sagt: „Ich finde ja gut, dass es Leute gibt, die gerne in der Stadt wohnen. Aber der Druck aufs Land steigt eben auch.” Thommen ist 47 Jahre alt, Sekretär und Vorstandsmitglied von Ecopop. Das Ecopop-Haus ist auch sein Haus, hier laufen die Fäden zusammen.
Thommen verkörpert zwei Eigenschaften, die man für unvereinbar halten würde: das Ländlich-Konservative und das Alternativ-Ökologische. Er denkt als Ammann und damit höchster Effinger vor allem für seine 600 Leute. Er regt sich auf, dass Dorfladen, Bank und Post wegen den Konkurrenten Aldi und Lidl schliessen mussten. Und er nervt sich an den Red Bull-Dosen im Wald, wenn er mit seinem Hund spazieren geht. Thommen ist aber auch ein Grüner, so steht es in seinem Parteibuch. Sein Haus teilt er nicht nur mit Frau und Kindern, sondern auch als WG mit zwei Untermietern. Im Garten leben Hühner, auf das Dach der angebauten Scheune hat er eine Solaranlage montiert.
„Das wäre schon was, wenn hier noch einmal Geschichte geschrieben wird”, sagt Thommen. Denn in seinem Haus wohnte Anfang des 20. Jahrhunderts einer der einflussreichsten Männer der Schweiz: Professor Ernst Laur. Vier Jahrzehnte lang war er Direktor des Schweizer Bauernverbandes. Laur legte den Nährboden für die Entstehung der rechtskonservativen SVP. Kritiker warfen ihm eine „Blut-und-Boden-Ideologie” und Antisemitismus vor. Genau 50 Jahre nach seinem Tod versucht Thommen nun, in seine Fußstapfen zu treten.
Die konservativ-bäuerliche Denkweise ist eine Tradition von Ecopop. Die Angst vor der Überbevölkerung ist die andere. Gegründet wurde der Verein vor 40 Jahren – zu einer Zeit, als der Club of Rome vor den Grenzen des Wachstums und ein Schweizer Ökonom vor den Folgen einer Bevölkerungsexplosion warnte. Ecopop war lange nicht mehr als ein obskures Grüppchen radikaler Grüner, für die sich kaum jemand interessierte. Man war vielleicht anderer Meinung, hielt den Verein aber für harmlos. Bekannt wurde er erst mit der vor zwei Jahren eingereichten Volksinitiative, die nun zur Abstimmung kommt. Alle Parteien von links bis rechts bekämpfen die Vorlage, der Wirtschaftsverband gibt Millionen für eine breite Nein-Kampagne aus.
Auch wenn Umfragen ein knappes Nein voraussagen: Die Initiative wirft ein schlechtes Licht auf die Demokratie und die politische Kultur in der Schweiz. Radikal-bürgerliche Vorlagen sind im Trend. Und sie sind mehrheitsfähig. Erst im Februar stimmten die Schweizer der Initiative gegen Masseneinwanderung der rechtspopulistischen SVP zu. Sie stellte die bilateralen Verträge der Schweiz mit der EU infrage. Ebenfalls per Volksabstimmung entschieden die Eidgenossen in den letzten Jahren beispielsweise, dass Muslime heute in der Schweiz keine Minarette mehr bauen dürfen oder dass schwere Sexualstraftäter in jedem Fall lebenslang weggesperrt werden. Nun ist die Reihe an einem kleinen Verein von radikalen Ökologen.
Balthasar Glättli hat sich am Zürcher Hauptbahnhof mit Hunderten von Leuten in den Zug gedrängt, es ist Samstag nach Ladenschluss. Von wegen Dichtestress: „Städtisches Leben hat doch Qualität”, sagt er. Glättli, 42 Jahre alt, trägt ein feines Hemd, mit der eckigen Akademiker-Brille und dem grünen Schal gibt er ein paar stereotype Hinweise auf seine politische Gesinnung. Glättli ist Chef der Grünen Fraktion im Parlament. Er ist auf dem Weg in eine Kleinstadt unweit von Zürich, wo er in einem Jugendzentrum aus seinem neuen Buch vorlesen wird. Es ist ein Buch über Ecopop, eine Kampfschrift gegen die Vorlage. Der Titel: „Die unheimlichen Ökologen”. Glättli schaut aus dem Fenster, wo die Zürcher Agglomeration vorbei zieht. „Theoretisch könnte man die ganze Schweiz im Kanton Zürich unterbringen”, sagt er. „Die Lösung heisst nicht Wolkenkratzer bauen. Sondern verdichten.”
Für seine Gegner heisst die Lösung eher: abdichten. 8 Millionen Einwohner hat die Schweiz zurzeit. Rund 80000 Immigranten kommen zurzeit pro Jahr, viele von ihnen hoch qualifizierte Fachkräfte. Auch rund 300 000 Bundesbürger leben und arbeiten derzeit im Nachbarstaat. Damit sind die Deutschen die größte ausländische Bevölkerungsgruppe in der Schweiz. Würde die Vorlage angenommen, dürften pro Jahr nicht mehr als rund 16000 Personen immigrieren. Experten gehen von einem massiven Schlag für die Schweizer Wirtschaft aus. Es wären die Grenzen des Wachstums, endgültig.
Der Abend im Jugendzentrum ist kulturell-festlich, eine Slam-Poetin eröffnet ihn. „Massen, schleichend, fremd sind im Trend”, reimt sie. „Ecopop, zackig und laut, sowas hört man heut.” Ihr hilft bloss noch Ironie. Glättli aber wird ernst, als er sich an den Tisch auf der Bühne setzt. Er glaubt, durch Intellekt und Argumente überzeugen zu können. Die Sorge vor Überbevölkerung gehe zurück bis in die Zeit der Französischen Revolution und Thomas Malthus. „Damals bekämpften die Reichen die Armen statt die Armut.” Die Gäste nippen an ihren Weingläser und nicken. Anschließend bleibt Glättli sitzen und diskutiert mit den Gästen, vorwiegend Grünen. Er sagt, dass seine Partei die Sorgen der Initianten teilt. Über das Wirtschaftswachstum, über die Zersiedelung. Doch die Vorlage sei fremdenfeindlich und bringe weitere soziale Nachteile: „Die Unternehmen werden auf Grenzgänger ausweichen.” Das führe zu Lohndumping und mehr Verkehr.
Gegner bezeichneten die Initianten von Ecopop als „Birkenstock-Rassisten” und „Öko-Faschisten”. Glättli, der Grünen-Chef, ist vorsichtiger. Für ihn sind es die „unheimlichen Ökologen”. Was er von Ecopop hält, macht Glättli aber auch so sehr deutlich. „Das Buch stellt dar, in welche letztlich menschenfeindlichen Denktraditionen sich die bevölkerungspolitisch orientierten Ökologen einreihen”, schreibt er schon im Klappentext.
Andreas Thommen wird rasend, wenn man auf Glättlis Buch zu sprechen kommt. Er zitiert aus einem Gastbeitrag, der davon handelt, dass die USA im kalten Krieg versucht hätten, in Indien Verhütung zu predigen. Dies hätten sie getan, steht im Buch, weil mit steigender Bevölkerung die Gefahr einer kommunistischen Revolutionen steigt. „Das sind doch Verschwörungstheorien”, sagt Thommen.
Die Welt von Ecopop ist einfacher. Statt auf politisch-strategischer Ebene setzt der Verein auf pragmatische Lösungen. So stellt er in seiner Initiative neben der Beschränkung der Zuwanderung eine zweite Forderung: Mindestens zehn Prozent der Schweizer Entwicklungshilfsgelder sollen in die „freiwillige Familienplanung” fließen, steht in der Abstimmungsvorlage. Sprich: Die Grenzen dichtmachen und im Ausland Verhütung predigen, mit Kondomen nach Afrika oder Indien.
Vom kleinen Effingen aus wollen sie damit nicht nur das nationale, sondern auch gleich das globale Umweltproblem lösen. Vielleicht auch deswegen trifft es Thommen hart, wenn ihm Eugenik, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus vorgeworfen wird. Er sagt, er müsse wohl in seiner Rolle als Ammann bei der nächsten Gemeindeversammlung eine Erklärung abgeben. „Ich werde sagen, dass ich kein Rassist bin.” Er klingt etwas hilflos, fast verzweifelt. Aber die Erklärung ist das einzige, was er tun kann.
1100 Dollar pro Stück zahlten reiche Chinesen früher für den weichen Pelz eines Seeotters. Grund genug für eine Weltmacht, um einen Seefahrer loszuschicken. Und viele Jäger hinterher.
Die kleine Geschichte in der aktuellen Ausgabe der Zeitschrift natur.