Schöner Schluss machen

Ein Beitrag zu einer vernachlässigten journalistischen Frage. Erschienen im deutschen “Medium Magazin” (6/2015) und zuvor im “Schweizer Journalist” (04-05/2015).

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Alle sprechen davon, wie wichtig der Einstieg in einen Text ist. Unbeantwortet bleibt die Frage: Wie um Himmels willen kommt man eigentlich wieder elegant raus aus dem Stück? Andres Eberhard

So. Der Anfang wäre geschafft. Sie sind noch dabei. Damit gehören Sie zu den rund 40 Prozent der Leser, die es über Titel und Vorspann hinaus schaffen. Wenn Sie nun diesen Absatz überstehen, gehen Sie statistisch gesehen ziemlich weit, oft bis zum bitteren Ende. Sagt die Leserforschung. Am Schluss haben Sie natürlich das gute Recht, nicht enttäuscht zu werden. Vor allem nicht von einem Text wie diesem. Sie werden erwarten, dass ein Artikel mit dieser Überschrift souverän zu Ende geht. Denn Sie haben dafür mindestens Ihre Kaffeepause geopfert. Nur: Wie geht das mit dem Schluss machen noch einmal ganz konkret?

„Fangen Sie mit einem Erdbeben an und steigern Sie langsam.“ Stern-Gründer Henri Nannen setzte mit diesem Tipp ganz schön Druck auf. So muss eine Geschichte viele Höhepunkte haben, damit sie es sich leisten kann, das Beste bis zum Schluss zurückzuhalten. Auch Kunstschreiber der Gegenwart halten Ratschläge bereit, die den Durchschnitts-Autoren eher beunruhigen als ihm helfen.
„Ein guter Schluss schwingt wie eine Stimmgabel.“ Das sagt der mehrfach ausgezeichnete freie Reporter Michael Obert. Eine Zauberformel für das Schreiben gebe es nicht. Immerhin, eine Empfehlung hält er bereit: Nachdem journalistisch alles geklärt sei, könne der Text in den letzten Sätzen noch einmal szenisch geöffnet werden. „Eine Art Open End.“

Es gibt aber auch Kollegen aus der Branche, die das etwas lockerer sehen. „Fangen Sie einfach irgendwie an, und hören Sie irgendwie auf.“ Das rät Christoph Zürcher, Leiter des Ressorts Gesellschaft bei der NZZ am Sonntag. Was er gar nicht mag, seien zu elaborierte, aufgesetzte Enden. Besser seien authentische Einstiege. „Da vertraue ich dem Journalisten sofort.“ Ausserdem: Wenn das Grundkonzept der Geschichte stimme, könne am Ende nicht viel schief gehen. „Ein guter Schluss kann einen schlechten Text auch nicht mehr rausreissen.“
Zürcher hat gut reden, hat er doch die Zeit, seine Geschichten von langer Hand zu planen. Bei seinen Gonzo-mässigen Reportagen stürzt er sich meist schon bei der Recherche mitten ins Geschehen. Beispiel Road-Trip durch Kirgistan vom letzten Sommer. Die Geschichte lebt von der Wildheit des Landes, den kuriosen Erlebnissen. Zürcher endet so: „Souvenirs: Eigentlich wollte ich ein Schaffell kaufen. Aber es gab nur Wolfspelze. Das kam mir für Kirgistan irgendwie symptomatisch vor.“
Auch wenn Zürcher sagt, er habe sich für das Ende dieser 30000 Zeichen-Geschichte nicht viel überlegt: Es ist ein Schluss wie aus dem Lehrbuch. Eine abschliessende Szene als Quintessenz der Geschichte, die erst noch direkt mit dem Titel harmoniert, der lautet: „Durch das wilde Kirgistan“.
„Stimmt, das ist ein logisches Ende“, sagt Zürcher. Je länger er darüber nachdenkt, desto mehr wird ihm bewusst, dass ein guter Schluss wohl schon wichtig sei, weil er das letzte ist, was dem Leser bleibt. „Ich mag Enden, die noch einmal etwas aufmachen, etwas im Vagen lassen.“

Nichts dem Zufall überlässt beim Schluss die Frau, die weiss, wie man einen Punkt hinter noch so lange Reportagen setzt: Margrit Sprecher. „Für Anfang und Schluss brauche ich die Hälfte der Zeit“, sagt sie. So behält sie sich das stärkste Bild bis zuletzt auf. Ein guter Schluss müsse überraschend und erlebnisstark sein, er müsse die ganze Geschichte in neuen Worten zusammenfassen und bestenfalls direkt mit dem Anfang im Zusammenhang stehen.
Das alles sagt sie in einer Selbstverständlichkeit, wie man es im heutigen, von kurzlebiger Lektüre geprägten Internetzeitalter nur ihr zugesteht. Denn Sprecher geht davon aus, dass die Leser ihre Texte bis ganz zum Schluss lesen. „Das wäre sonst deprimierend.“

In ihren Reportagen sei der Schluss sogar „das Allerwichtigste“, betont sie. „Er unterstreicht die Beweisführung.“ Die letzte Szene sollte dem Leser in Erinnerung bleiben, ihn beschäftigen.
Diese zu finden, könne manchmal durchaus einfach sein. Wie zum Beispiel in einem ihrer kürzlich in der ZEIT erschienenen Texte, als Sprecher an einer Stadtführung zum Thema Rohstoffhandel in Zug teil nahm. Da musste sie das szenische Detail nicht suchen, die Stadtführerin lieferte es als Teil des Rundgangs gleich mit. Im Text heisst es: „Und sie kennt auch den einzigen seriösen Rohstoffhändler in der Stadt.“ Worauf Sprecher endet: „Erwartungsvoll stoppt die Gruppe vor einem Süsswarengeschäft. Im Schaufenster steht ein Schild: „Konditorei Treichler, Erfinderin der Zuger Kirschtorte.“

Gut und recht, mag sich der eine oder andere Kollege aus dem Nachrichtengeschäft sagen, der keine Zeit hat, über solche Kunstformen nachzudenken. Zumindest die Situation kennt aus dem hektischen Tageszeitungs-Geschäft Constantin Seibt vom Tages-Anzeiger. In seinem Buch „Deadline“ schildert er sie:
„Es ist spät, verdammt spät, fünf Minuten vor oder genauer nach Redaktionsschluss. (…). Aber noch trennt Sie ein knapp drei Finger breites Loch vom Ende. Und Sie haben keine Idee mehr für eine Pointe. Sie haben überhaupt keine Idee mehr für irgendwas.“
Seibt empfiehlt, in diesem Moment, den Text hochzuscrollen zum Einstieg, um aus diesem einen Schluss zu formulieren. Er nennt diese Taktik den „Schwanzbeisser.“ „Aus irgend einem Grund befriedigt es Menschen, wenn sich etwas in den Schwanz beisst: die Schlange, das Rad der Zeit, der Kreis des Lebens oder sogar eine Katze auf Youtube.“
„Zurück zum Anfang“ ist natürlich nicht Seibts Erfindung. Genauso wie die „Quintessenz“ empfehlen auch Lehrbücher diese bewährte Ausstiegs-Form (siehe Box).

Diese Art von Schluss machen ist mittlerweile unter Journalisten so beliebt, dass sie manche Vielleser bereits langweilt. Zum Beispiel Philipp Maußhardt, Leiter der Reportageschule Reutlingen. Er mag Texte lieber, die in ihren letzten Zeilen eine „überraschende Wendung“ nehmen oder die Moral der Geschichte noch einmal elegant auf den Punkt bringen.
Er selber notiert sich die letzte Szene in vielen Fällen bereits während der Recherche in den Notizblock. „Es ist einfacher, auf einen Schluss hinzuschreiben.“ Sonst bestehe die Tendenz, alle schönen Szenen bereits früher in der Geschichte verbraten zu haben.
Maußhardt ist bekannt für seine lockeren, witzigen Reportagen, in denen das Ende oft die Funktion eines Gags übernimmt. Als entsprechend wichtig erachtet er es. „Der Einstieg ist wichtig, damit der Leser weiter liest. Das Ende aber hallt nach und bleibt.“ Der Schluss werde im Vergleich zum Anfang unterbewertet, sagt er.

Warum aber wird der Schluss von Texten von Journalisten so stiefmütterlich behandelt? Dafür gibt es zwei Erklärungen.
Der eine ist historischer Art. Bevor es PC’s und Layoutprogramme gab, mussten Setzer die Seiten von Hand zusammen basteln. Das war ein sehr aufwendiger Prozess. Lieferte der Journalist ein zu langes Stück ab, musste entweder noch einmal die ganze Artikelfahne gedruckt werden. Oder aber der Setzer schnitt den Text einfach von hinten ab. Viele heute noch tätigen Journalisten haben so ihr Handwerk gelernt: In den letzten paar Sätzen ja nichts Wichtiges sagen. Heute wird auf Nachrichtenagenturen nach demselben Prinzip gearbeitet – um gestressten Redaktoren das Kürzen möglichst einfach zu machen.
Den zweiten Grund kennt Leserforscher Carlo Imboden, der Erfinder des Reader Scan. Für den Leser sei der Schluss der Geschichte nicht entscheidend, sondern der Anfang. Beim Ende gelte: „Hauptsache, es wird gelesen.“ Ob ein Schluss gut oder schlecht sei, fragt Imboden in seinen Studien gar nicht ab. „Es bringt mir nichts.“ Ergebnisse aus Fernsehstudien würden zeigen: „Manche Zuschauer sind richtig gehend masochistisch. Sie sagen, sie würden eine Sendung scheisse finden. Dann schalten Sie aber doch immer wieder ein.“

Dieses ernüchternde Fazit bricht Imboden nur für eine spezifische Form von journalistischen Artikeln auf: Bei Kommentaren, Leitartikeln und Glossen sei das Ende sehr wohl entscheidend. Zumindest kann er nur für solche Formen nachweisen, dass der Leser die Rubrik in Zukunft meidet, wenn ihn ein Text frustriert zurücklässt. „Da muss zum Schluss zwingend eine Pointe oder klare Aussage kommen.“

Demzufolge spielt es keine Rolle, wie dieser Artikel zu Ende geht. Interessanter ist ohnehin die Frage, ob Sie bis hierhin wirklich den ganzen Text gelesen haben. Oder sind Sie etwa nach dem Einstieg sofort hierhin gesprungen? In diesem Fall gehören Sie zu einem bei Magazinen verbreiteten Lesertyp, der nach den ersten Zeilen einer Geschichte sofort die Quintessenz sucht. Sollte das auf Sie zutreffen, beweisen Sie nichts anderes, als dass der Schluss eben doch gut gelesen wird. Und damit wichtig ist.

Das sagt das Lehrbuch
Das geht:
– Ende der Handlung: Wenn es geht, verdichten oder überhöhen.
– Die Quintessenz: Eine abschliessende Szene oder Handlung, in der sich die Kernaussage des Textes kristallisiert.
– Zurück zum Anfang: Funktioniert praktisch immer. Jedoch nur, wenn sich beides auf die Kernaussage bezieht.
– Pointe oder Paukenschlag: Wenn Sie noch was im Ärmel haben, schütteln Sie es raus.
– Ausblick, Service, Appell: Es muss nicht immer hoch kreativ sein. Für sachliche Berichte geeignet.
Das geht nicht:
– Nebenschauplatz: Der Text darf den Fokus am Ende nicht verlieren.
– Das neue Fass: Im letzten Absatz keinen neuen Käse anschneiden.
– Nährwert Null: Kann man den Schluss von hinten kürzen? Wenn ja, tun Sie es.
Quelle: Marie Lampert/Rolf Wespe: Storytelling für Journalisten.

Gute Enden
– In einer Geschichte über den untergetauchten Romanautor Peter Hoeg bringt die schwedische Journalistin Natalia Kazmierska zum Schluss einen Paukenschlag:
„Die Bedingung ist, dass ich niemandem erzähle, dass ich ihn hier und jetzt getroffen habe. Das ist die wichtigste Forderung des weltberühmten Schriftstellers. Er insisitert sehr auf diesem Punkt. Ich muss tun, als habe dieses Treffen in Norre Snede nie stattgefunden. Ich stimme nicht zu.“
– Erwin Koch endet seine Geschichte über den Altphilologen Kurt Steinmann mit einem Ausblick – aber wie:
„Dann tritt er an seinen Tisch in seinem Zimmer und beginnt zu übersetzen, Homers anderes grosses Werk, die „Ilias“, 15 Verse jeden Tag, zuerst im Kopf, dann schreibt er sie nieder, schmeckt sie ab, tippt sie endlich in den Computer, sechs Stunden Arbeit für 15 von 15693 Versen, 1047 Tage für die „Ilias“, Hieb um Hieb, Schlacht um Schlacht, Gott für Gott, Abgabetermin – 2018.“
– Die mehrfach preisgekrönte Reportage von Takis Würger über den 50-jährigen Profiboxer Andreas Sidon hat ihren Höhepunkt kurz vor Schluss, als Sidon den im Countdown-Stil erzählten Boxkampf überraschend gewinnt. Der letzte Absatz ist dann wieder ganz leise, ein schlichtes Ende der Handlung: „Der Ring war abgebaut, die Stühle waren gestapelt, und Sidon stand noch lange in der Halle.“